9.4 Taylor Approximation
Wir erinnern daran, dass die Ableitung einer reellwertigen differenzierbaren Funktion auf einem Intervall die Steigung der Tangente
des Graphen von bei angibt, wobei die Tangente den Graphen gut approximiert (im Sinne von für). Wir wollen hier die Güte der Approximation erhöhen indem wir statt linearen Approximationen auch noch höhere polynomiale Approximationen erlauben.
Sei also eine -mal differenzierbare Funktion auf einem offenen, nicht-leeren (möglicherweise unbeschränkten) Intervall . Die -te Taylor-Approximation von um einen Punkt ist das Polynom
Die Koeffizienten wurden dabei so gewählt, dass und allgemeiner
für gilt (wieso?). Die vielleicht naive Hoffnung ist hierbei, dass die Taylor-Approximation, wie der Name sagt, die Funktion approximiert. Falls glatt ist, dann ist die Taylorreihe von um definiert als die Potenzreihe
Damit wir hier von einer Potenzreihe sprechen dürfen, erweitern wir die Definition 7.54 wie folgt. Eine Potenzreihe um einen Punkt in der Variable ist ein formaler Ausdruck der Form , wobei für alle die Koeffizienten der Potenzreihe sind. Der Konvergenzradius
ist wie in Abschnitt 7.4.1 definiert und die Potenzreihe konvergiert für alle mit Abstand kleiner von und divergiert für alle mit (was aus Satz 7.56 folgt, wie?).
Soweit ist nicht klar, was der Konvergenzradius der Taylor-Reihe einer glatten Funktion um einen Punkt im Definitionsbereich ist und ob er positiv ist. Die naive Hoffnung ist, dass die Taylor-Reihe, wo definiert, gleich der Funktion ist, da die Taylorreihe bei die gleichen Ableitungen wie hat. Dies ist in der Tat für viele Funktionen der Fall, doch, wie folgendes Beispiel zeigt, nicht immer.
Beispiel 9.45 (Verschwindende Taylorreihe).
Wir betrachten die Funktion
die nach Beispiel 8.23 glatt ist und für alle erfüllt. Wir zeigen, dass sich nicht durch eine Potenzreihe um darstellen lässt.
Wir nehmen also indirekt an, dass es eine Potenzreihe mit reellen Koeffizienten und Konvergenzradius gibt, so dass für alle . Nach Korollar 9.11 (oder genauer Übung 9.12) ist . Aber da für alle angenommen wurde und da Ableiten eine lokale Operation ist, schliessen wir, dass und somit für alle . Dies widerspricht jedoch für alle . Also kann in keiner Umgebung von durch eine Potenzreihe dargestellt werden.
Folgender Satz liefert nun einen direkten Vergleich zwischen einer Funktion und ihrer Taylor-Approximationen. Er impliziert für viele Funktionen, dass sie mit ihrer Taylorreihe übereinstimmen.
Theorem 9.46 (Taylor-Approximation).
Sei ein offenes, nicht-leeres Intervall und sei eine -mal stetig differenzierbare Funktion. Sei . Dann gilt für alle
wobei die -te Taylor-Approximation ist und wir den Fehlerterm durch das sogenannte Integral-Restglied
darstellen können. Dies gilt auch für Funktionen auf und Punkte (beziehungsweise und ).
Die Annahme im Theorem, dass eine -mal stetig differenzierbare Funktion ist, ist essentiell für obige Formulierung. In der Tat ist damit eine stetige Funktion und das Integral der stetigen Funktion im Integral-Restglied existiert.
Beweis von Satz 9.46.
Das Theorem ergibt sich mit Induktion über und partieller Integration (die ebenso für komplexwertige Funktionen auf gilt, wieso?). Ist und stetig differenzierbar, so gilt nach dem Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung (genauer Korollar 9.5)
Ist nun zweimal stetig differenzierbar (also ), so können wir auf obiges Integral partielle Integration mit und anwenden und erhalten
Wir sehen also wie sich ausgehend vom Fundamentalsatz mittels partieller Integration der nächste Fall des Satzes ergibt.
Angenommen die Aussage des Satzes stimmt für und sei eine -mal stetig differenzierbare Funktion. Dann gilt auf Grund der Induktionsvorraussetzung
für alle .
Wir setzen und , bemerken und wenden partielle Integration an, um
zu erhalten. Dies beweist den Induktionsschritt und damit den Satz.
■
Oft werden wir das Theorem von Taylor (Theorem 9.46) in folgender Form verwenden.
Korollar 9.47 (Taylor-Abschätzung).
Sei ein offenes, nicht-leeres Intervall, sei eine -mal stetig differenzierbare Funktion und seien zwei Punkte. Wir setzen . Dann gilt
Insbesondere ist für .
Beweis.
Angenommen . Dann gilt
Der Beweis für ist analog ausgehend von
■
Bemerkung.
Wir hätten andere Versionen des obigen Satz zu Taylor-Approximationen bereits in Abschnitt 8.2 für reellwertige Funktionen beweisen können. Dies sogar unter der etwas schwächeren Annahme an die -te Ableitung, dass diese bloss zwischen und existieren soll und nicht unbedingt stetig sein muss. Unter dieser Voraussetzung gibt es ein zwischen und , so dass das sogenannte Restglied nach Cauchy durch
gegeben ist. Es gibt unter denselben Voraussetzungen auch ein zwischen und , so dass das Restglied nach Lagrange durch
gegeben ist. Wir verweisen dafür auf folgende Übung.
Übung 9.48 (Andere Formeln für das Restglied).
Gegeben sei ein nicht-leeres Intervall , Zahlen und eine -mal differenzierbare Funktion .
- (a)
- Zeigen Sie, dass die Ableitung der Funktion
durch gegeben ist.
- (b)
- Wenden Sie den Mittelwertsatz (Theorem 8.29) auf die obige Funktion an, um die Formel für das Restglied nach Cauchy zu beweisen.
- (c)
- Verwenden Sie den verallgemeinerten Mittelwertsatz (Satz 8.48) für obiges und die Funktion , um die Formel für das Restglied nach Lagrange zu beweisen.
Beispiel 9.49 (Extremwerte).
Wir wollen die Taylor-Approximation verwenden um die Diskussion in Abschnitt 8.1.3 und Korollar 8.37 zu verfeinern. Sei ein offenes, nicht-leeres Intervall und sei eine -mal stetig differenzierbare Funktion. Angenommen erfüllt
Dann gelten folgende Implikationen.
•
Falls ist und gerade ist, so nimmt in ein lokales Maximum an.
•
Falls ist und gerade ist, so nimmt in ein lokales Minimum an.
•
Falls und ungerade ist, so nimmt in kein lokales Extremum an.
Alle drei Aussagen folgen aus der Taylor-Approximation in Theorem 9.46, die in diesem Fall für die Form
annimmt. Falls ist, existiert ein mit für alle . Wir betrachten nun mehrere Fälle. Ist , so ist obiges Integral positiv und damit . Ist und gerade, so ist obiges Integral (auf Grund der umgekehrten Reihenfolge der Integrationsgrenzen) negativ, womit gilt und in kein lokales Extremum annimmt. Ist hingegen und ungerade, so ergibt sich auf dieselbe Weise , womit ein lokales Minimum in annimmt. Für können wir obige Diskussion auf anwenden.
9.4.1 Analytische Funktionen
Applet 9.50 (Taylor-Approximationen).
Wir stellen einige Taylor-Approximationen bei verschiebbaren Fusspunkten zu bekannten Funktionen dar.
Betrachtet man eine glatte Funktion in Theorem 9.46, für die der Wert der Ableitung von nicht zu wild wird für hohe Ableitungen, dann geht das Restglied zu einem fest gewählten für gegen Null und die Funktion wird durch ihre Taylorreihe beschrieben. Wie bereits gesehen, muss dies jedoch nicht unbedingt der Fall sein. Eine mögliche Abschätzung, die ausreichen würde, ist
für alle und zwei Konstanten. Eine Abschätzung dieser Art findet man beispielsweise für und Kombinationen dieser Funktionen.
Übung 9.51.
Sei ein kompaktes Intervall mit Endpunkten .
- (a)
- Sei ein Polynom oder eine der Funktionen . Zeigen Sie, dass Konstanten mit
existieren.
- (b)
- Zeigen Sie, dass falls Funktionen mit der Eigenschaft (9.9) auch und diese Eigenschaften besitzen.
Eine Funktion, die sich um jeden Punkt im Definitionsbereich als Potenzreihe darstellen lässt, nennen wir analytisch. Genauer sei ein offenes, nicht-leeres Intervall und eine glatte Funktion. Die Funktion heisst analytisch, falls die Taylorreihe von um jeden Punkt in positiven Konvergenzradius hat und auf mit übereinstimmt.
Wir wollen ein weiteres Beispiel, wo sich eine glatte Funktion mit ihrer Taylorreihe vergleichen lässt, Interessierten als Übung überlassen (vergleichen Sie dies mit Übung 9.14).
Übung 9.52.
Sei . Zeigen Sie, dass
für alle , wobei für
Hinweis.
Sei . Berechnen Sie zuerst für alle und geben Sie die Taylorreihe von um Null an. Zeigen Sie dann, dass das Restglied „klein“ wird.
Bemerkung.
Analytische Funktionen haben im Zusammenhang mit „holomorphen Funktionen“ auf offenen Teilmengen von nach eine schöne, geschlossene Behandlung, die in der Vorlesung „Funktionentheorie“ im zweiten Studienjahr thematisiert wird. Der komplexe Blickwinkel erklärt zum Beispiel, warum die analytische Funktion bei eine Taylorreihe mit Konvergenzradius besitzt, obwohl die Funktion auf ganz definiert ist.
9.4.2 Konvergenzgeschwindigkeit des Newton-Verfahrens*
Als Anwendung des Satzes von Taylor (Theorem 9.46) möchten wir in diesem Teilabschnitt das Newton-Verfahren zur approximativen Berechnung einer Nullstelle einer gegebenen Funktion diskutieren. Weitere Anwendung werden in den nächsten Abschnitten dieses Kapitels folgen.
Beispiel 9.53.
Sei ein kompaktes Intervall mit Endpunkten und eine stetig differenzierbare Funktion mit für alle . (Wir erinnern daran, dass dies im Allgemeinen nicht dasselbe wie strenge Monotonie von ist, aber strenge Monotonie impliziert.) Angenommen es gilt und . Dann gibt es auf Grund des Zwischenwertsatzes (Satz 3.58) ein mit , das wegen der strengen Monotonie von eindeutig bestimmt ist. Beginnend mit einem gewählten Punkt definieren wir rekursiv
für alle (falls ). Die Idee hinter diesem Verfahren möchten wir in folgendem Bild erklären.
Figur9.2: In einem ersten Schritt approximiert man mit der Tangenten bei . Von dieser berechnet man nun die eindeutige Nullstelle . In einem zweiten Schritt verwendet man nun diesen neuen Punkt und berechnet die eindeutige Nullstelle der Tangenten bei . Dies führt man iterativ so fort.
Falls die Folge definiert ist (das heisst, für alle ) und konvergiert, dann ist ihr Grenzwert eine Nullstelle von und somit unter unseren Annahmen gleich der Nullstelle . In der Tat gilt für
und somit und .
Das Konvergenzverhalten der Folge ist im Allgemeinen „sehr chaotisch“. Unter etwas stärkeren Annahmen möchten wir nun aber zeigen, dass die Folge konvergiert und die Konvergenzgeschwindigkeit untersuchen.
Wir nehmen zusätzlich an, dass zweimal stetig differenzierbar ist und definieren
Nun wenden wir Korollar 9.47 an, um den Fehlerterm bei der Approximation von durch die Tangente um abzuschätzen. Bei der Nullstelle ergibt dies
Des Weiteren gilt per Definition
Wir dividieren Gleichung (9.12) durch und erhalten
Mit der Abschätzung (9.11) ergibt dies
Falls nun klein genug ist, so dass gilt, und falls ist, dann folgt aus (9.13), dass
Daher liegt auch in und ist bereits näher an als . Komplett analog beweist man, dass für alle
gilt, was mit vollständiger Induktion auch
für alle zeigt. Insbesondere konvergiert die Folge und wir können das Newton-Verfahren (unter geeigneter Wahl eines Startpunktes ) verwenden, um die Nullstelle mit hoher Genauigkeit zu approximieren. Die Konvergenz ist noch schneller als diese Abschätzung beweist; man spricht von quadratischer Konvergenz.
Übung 9.54 (Quadratische Konvergenz).
Wir möchten die Konvergenzgeschwindigkeit des Newton-Verfahrens hier genauer analysieren. In obigem Beispiel wurde gezeigt, dass sich der Fehler in jedem Schritt mindestens halbiert. Wir betrachten nun das Argument etwas genauer (und behalten dementsprechend die Notation). Sei . Zeigen Sie für den mit gewichteten Abstand die Abschätzung
für jedes gilt.